Christine und Antonia sitzen mit Freunden in einem Café. Sie unterhalten sich darüber, was sie am Sonntag gemeinsam unternehmen wollen. Plötzlich sagt Christine
Blau.
Die Freunde schauen Christine fragend an, woraufhin diese lachend feststellt
Der Sonntag ist blau.
Während die anderen sichtlich irritiert sind, meint Antonia
Nein, der Sonntag ist rot!
Dieses Spiel betreiben die beiden Frauen nun eine Zeit lang, werfen sich Worte zu und benennen die Farben, die sie in den Worten sehen. Diese stimmen selten überein, was das Spiel für sie erst so recht interessant macht.
Die anderen Freunde schauen sich fragend an und drücken mit Mimik und Gestik aus:
Macke! Gaga!
Und sonst gehts gut? fragt einer.
Alles paletti im Dachstübchen? ein anderer.
Worte farbig sehen und Töne schmecken
Diese Reaktion kennen Christine und Antonia gut. Das, was die beiden hier spielen, klingt für Außenstehende ziemlich spinnert. Außenstehende sind in diesem Fall der weitaus größere Teil der Bevölkerung.
Christine und Antonia sind Synästheten, genauer Graphem-Farb-Synästheten. Sie sehen Worte (Buchstaben) und Zahlen farbig.
Bei dieser Fähigkeit handelt es sich um nur eine von vielen Formen der Synästhesie.
Manche Synästheten – liebevoll Synnies genannt – können Töne schmecken, andere sehen beim Hören von Tönen Farben, wieder andere spüren eine Berührung, die sie bei anderen Menschen sehen, am eigenen Körper.
Synästhesie − Für Nicht-Synästheten schwer zu begreifen
Christine und Antonia können sich diese Arten der Synästhesie nicht vorstellen. Sie haben z.B. noch nie einen Ton geschmeckt. Und so sind sie sich im Klaren darüber, wie schwer zu begreifen die Synästhesie für Nicht-Synästheten ist.
Allerdings sind die beiden als Synästheten sozusagen vorgeprägt und wissen deshalb, dass bei den „Töneschmeckern“ ebenso wie bei ihnen selbst bestimmte Wahrnehmungen miteinander verknüpft sind, dass ihr Gehirn anders strukturiert ist und zudem viel mehr Verbindungen aufweist als das bei Nicht-Synästheten der Fall ist. Und weil sie das alles wissen, bezeichnen sie die „Töneschmecker“ nicht als durchgeknallt, meschugge, merkwürdig, abartig.
Genau das tun aber viele Nicht-Synästheten mit uns Synnies. Typische Fragen an Synästheten sind:
Wie bist du den drauf?
Ist das ansteckend?
Was ist denn bei dir schiefgelaufen?
Ist das heilbar?
Das sind nur einige der Fragen, die wir uns gefallen lassen müssen. Das Unverständnis in Verbindung mit Aburteilen ist auch Grund dafür, weshalb viele Synästheten nicht über ihre Fähigkeit sprechen, sie wollen nicht als Spinner oder krank im Kopf abgestempelt werden.
Auf die bunten Verknüpfungen nicht verzichten
Und genau das ist es ja auch nicht: Synästhesie ist keine Krankheit.
Ganz im Gegenteil: Es ist eine tolle Sache! Die Welt ohne bunte Worte – für mich unvorstellbar. Ich kann mir gar nicht vorstellen, Buchstaben und Zahlen nur Schwarz auf Weiß zu sehen, da ich es nun mein Leben lang anders kenne, wäre das total langweilig für mich. Ich mag es, Namen zu lesen, zu hören oder sie vor meinem geistigen Auge zu sehen, und gleichzeitig ihre kräftigen, warmen oder kühlen Farben zu sehen. Es gibt z.B. viele Namen, die für mich rot und grün sind. Die strahlen Wärme aus, die ich selbst spüre. Diese Namen empfinde ich als sehr angenehm, was sich dann auch auf den dazugehörigen Menschen überträgt. Und meistens sind mir diese Menschen auch unabhängig von meiner Synästhesie sympathisch.
Auf solche Art Wahrnehmungen und bunte Verknüpfungen möchte ich auf gar keinen Fall nicht verzichten.
Und so geht es vielen Synnies. Die meisten empfinden ihre Synästhesie als Gabe, für uns ist dieses Phänomen eine faszinierende Bereicherung.