Synästhetisches Walking mit bunten Zahlen

In Ermangelung eines schönen Berg- oder Waldweges sowie angesichts des ganz normalen Großstadtwahnsinns auf den Straßen (dies schrieb ich, als ich noch in Berlin lebte, inzwischen habe ich schöne Waldwege :-)), absolviere ich meine Walkingtouren meist im nahegelegenen Stadion. Ewig immer die gleichen Runden zu laufen ist zwar außerordentlich langweilig, aber stressfreier und immer noch besser, als sich permanent von roten Ampeln, schlecht gelaunten Fahrzeugführern, slalomrasenden Radfahrern und stur auf Linie gehenden Fußgängern blockieren zu lassen. Zudem würgen mir im Stadion nicht ständig tausende von Benzin- und Diesel-Vierrad-Karossen-Besitzern ihre Abgas-Rüssel unter die Nase.
Nein – hier ist per pedes angesagt, recht wenig PS und ungestörte Bewegung.
Angenehm läuft es sich auf dem mittelweichharten rotbraunen Belag (auch barfuß – schon mal probiert?). Dennoch ist das ewige Einerlei der Runden sooo boooring, dass man ihm nur entkommt durch Gespräche mit anderen Stadion-Walkern oder durch interessante Gedankenspiele.
Mein Spiel auf den sich aneinanderreihenden 400-Meter-Strecken heißt Synästhetisches Walking mit bunten Zahlen. Das bedeutet, jede meiner zu laufenden Runden hat eine Farbe.
Da ich Graphem-Farb-Synästhet bin (siehe: Über mich), sehe ich Buchstaben und Zahlen farbig.
Einige Zahlen sind bei mir sehr hell, durch ihre Ähnlichkeit unterscheiden sie sich kaum voneinander, weshalb ich mich auf den dazugehörigen Runden anderweitig beschäftigen muss.
Aber dann beginnt das Feuerwerk: Ich habe eine grüne Runde, eine rote, eine blaue, eine braun-graue, eine braune und eine Sonnenrunde.
Jedes Mal, wenn eine neue Runde beginnt, denke ich zunächst die Zahl der Runde und sehe gleichzeitig die entsprechende Farbe. Auf den nun folgenden 400 Metern denke ich dies nun wiederholt und erziele so eine gewisse Entspannung inmitten der jeweiligen Farbe.
Dabei komme ich nicht in Konflikte bezüglich Farbe der Zahl und Farbe der Buchstaben der Zahl. Ein Beispiel: Nehmen wir die 3, nehmen wir weiterhin an, deren Farbe sei blau, so stimmt dieses Blau nicht überein mit dem geschriebenen Wort Drei, das bei mir anderen Farben hat. Wenn ich darüber gerade einmal nachdenke, so merke ich, dass nur eine einzige Zahl eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Wort der Zahl aufweist.

Doch zurück zu den bunten Stadion-Runden: Die rote Runde ist stark, fruchtig und wärmend, was vor allem in der kalten Jahreszeit eine angenehme Wirkung erzielt. Die blaue Runde ist ebenso stark, zudem sehr klar und kühl und somit erfrischend im Sommer. Da rote und blaue Runde unmittelbar aufeinanderfolgen, kann hier durchaus von einer kleinen Kneipp-Kur gesprochen werden. Die grüne Runde ist besonders intensiv, da sie die Farbe von Bäumen und Wiese verstärkt (Sommer) oder suggeriert (Winter). Die grüne Runde ist auch deshalb schön, weil auf sie die braune Runde folgt und die braune Runde ist nicht nur eine der letzten, sondern auch die Kaffee-Runde. Nein, nein, da steht kein freundlicher Mensch am Rand und reicht eine Tasse Kaffee. Auf der Kaffee-Runde sehe ich die schönen braunen Kaffeekrümelchen vor mir, rieche den intensiven Duft des exotischen Getränkes und habe dessen Geschmack voller Vorfreude bereits auf der Zunge. Die Sonnenrunde liegt irgendwo dazwischen und strahlt und strahlt und strahlt…
Die restlichen Runden sind flotti gelaufen und schon geht es aus der Oval-Rotation auf die gerade Strecke und flugs nach Hause, wo bald schon der echte Duft des braunen leckeren Muntermachers die Küche erfüllt…

 

Synästhesie als Gabe – Ohne bunte Worte wäre die Welt ziemlich grau

Christine und Antonia sitzen mit Freunden in einem Café. Sie unterhalten sich darüber, was sie am Sonntag gemeinsam unternehmen wollen. Plötzlich sagt Christine
Blau.
Die Freunde schauen Christine fragend an, woraufhin diese lachend feststellt
Der Sonntag ist blau.
Während die anderen sichtlich irritiert sind, meint Antonia
Nein, der Sonntag ist rot!
Dieses Spiel betreiben die beiden Frauen nun eine Zeit lang, werfen sich Worte zu und benennen die Farben, die sie in den Worten sehen. Diese stimmen selten überein, was das Spiel für sie erst so recht interessant macht.
Die anderen Freunde schauen sich fragend an und drücken mit Mimik und Gestik aus:
Macke! Gaga!
Und sonst gehts gut? fragt einer.
Alles paletti im Dachstübchen? ein anderer.
Diese Reaktion kennen Christine und Antonia gut. Das, was die beiden hier spielen, klingt für Außenstehende ziemlich spinnert. Außenstehende sind in diesem Fall der weitaus größere Teil der Bevölkerung.
Christine und Antonia sind Synästheten, genauer Graphem-Farb-Synästheten. Sie sehen Worte (Buchstaben) und Zahlen farbig.
Bei dieser Fähigkeit handelt es sich um nur eine von vielen Formen der Synästhesie.
Manche Synästheten – liebevoll Synnies genannt – können Töne schmecken, andere sehen beim Hören von Tönen Farben, wieder andere spüren eine Berührung, die sie bei anderen Menschen sehen, am eigenen Körper.
Christine und Antonia können sich diese Arten der Synästhesie nicht vorstellen. Sie haben z.B. noch nie einen Ton geschmeckt. Und so sind sie sich im Klaren darüber, wie schwer zu begreifen die Synästhesie für Nicht-Synästheten ist.
Allerdings sind die beiden als Synästheten sozusagen vorgeprägt und wissen deshalb, dass bei den „Töneschmeckern“ ebenso wie bei ihnen selbst bestimmte Wahrnehmungen miteinander verknüpft sind, dass ihr Gehirn anders strukturiert ist und zudem viel mehr Verbindungen aufweist als das bei Nicht-Synästheten der Fall ist. Und weil sie das alles wissen, bezeichnen sie die „Töneschmecker“ nicht als durchgeknallt, meschugge, merkwürdig, abartig.
Genau das tun aber viele Nicht-Synästheten mit uns Synnies. Typische Fragen an Synästheten sind:
Wie bist du den drauf?
Ist das ansteckend?
Was ist denn bei dir schiefgelaufen?
Ist das heilbar?
Das sind nur einige der Fragen, die wir uns gefallen lassen müssen. Das Unverständnis in Verbindung mit Aburteilen ist auch Grund dafür, weshalb viele Synästheten nicht über ihre Fähigkeit sprechen, sie wollen nicht als Spinner oder krank im Kopf abgestempelt werden.
Und genau das ist es ja auch nicht: Synästhesie ist keine Krankheit.
Ganz im Gegenteil: Es ist eine tolle Sache! Die Welt ohne bunte Worte – für mich unvorstellbar. Ich kann mir gar nicht vorstellen, Buchstaben und Zahlen nur Schwarz auf Weiß zu sehen, da ich es nun mein Leben lang anders kenne, wäre das total langweilig für mich. Ich mag es, Namen zu lesen, zu hören oder sie vor meinem geistigen Auge zu sehen, und gleichzeitig ihre kräftigen, warmen oder kühlen Farben zu sehen. Es gibt z.B. viele Namen, die für mich rot und grün sind. Die strahlen Wärme aus, die ich selbst spüre. Diese Namen empfinde ich  als sehr angenehm, was sich dann auch auf den dazugehörigen Menschen überträgt. Und meistens sind mir diese Menschen auch unabhängig von meiner Synästhesie sympathisch.
Auf solche Art Wahrnehmungen und bunte Verknüpfungen möchte ich auf gar keinen Fall nicht verzichten.
Und so geht es vielen Synnies. Die meisten empfinden ihre Synästhesie als Gabe, für uns ist dieses Phänomen eine faszinierende Bereicherung.

 

 

Die entdeckten Farben im poetisch-musikalischen Universum des Jon Anderson

Prolog

Es ist Herbst in Berlin. Ich schaue aus dem Fenster. Der Himmel ist dunkel. Graue Wolken. Muss die Stimmung deshalb ebenso grau sein? Nein! Nur ein paar Klicks am Computer – und ich lausche. Erwartungsvoll. Doch wissend, was gleich geschieht. Es wird eine grüne Explosion geben. Ich schließe die Augen. Und schon fliegen die grünen Farbfetzen durch die Gegend, über mir, hinter mir, um mich herum. Grün – alles ist grün: Jon Anderson singt Soon.

Eine weitere Explosion in Rot, doch Grün behauptet sich

Es ist eines der kürzeren Werke des zum Prog god 2016 gekürten Ex-Yes-Sängers. Zum Ausgleich bringt mein kluger Computer das längere Werk Siberian Khatru. Sofort verschwindet das Grün und gibt einem strahlenden Silber-Weiß Raum, welches über bedecktes Rot und Blau hinwegfegt, als wolle es die beiden verbundenen Farben aus der Dimension der Töne drängen.
Der Computer kennt seine Route durch das poetisch-musikalische Universum des Jon Anderson, in dem sich Farbe an Farbe reiht, nicht enden wollend. Long Distance Runaround ist ein verwirrender Mix aus Grün, Rot und Blau, bei dem die Farbkleckse ineinander fließen, sacht beiseitegeschoben schließlich von dem blasseren Then. Die Blässe jedoch kann sich nicht halten, denn schon wird sie von dunklem Grün, welches sich auf vierfach sandfarbenen Boden behaglich ausstreckt, verdrängt: Close to the edge. Das Grün zieht sich hinüber, in einem schmalen Band nur, gerade in der oberen rechten Bildecke kann es bei Roundabout das Rot und Blau in die Enge treiben, bevor es in einem großen Kreis zwischen eben jenem Rot und Blau in Heart Of The Sunrise zurückkommt.
Das Rot aber, scheinbar selbstbewusst und mutig schreitet zurück in die Bildmitte meines Farbspektrum-Ausschnittes und breitet sich in And You and I nach zwei Seiten aus. So weit, so weit, die beiden Feuer-Ströme fließen nach unten und scheinen aus dem Bild fallen zu wollen.

Doch unaufhörlich schallen die Töne aus dem Computer, rücken das Going for the One näher an meine Ohren, so dass sich zwischen dem fließenden Rot der Feuer-Ströme erneut das Grün ausbreitet, ein wenig unterbrochen nur von etwas Sandfarbenem. Das wenige reicht jedoch aus, um die nächste Explosion vorzubereiten. Mitten in diesem sandfarbenen Klecks taucht plötzlich ein roter Punkt auf. Ohne Mühe plätschert das Rot aus dem Punkt heraus, breitet sich spiralenförmig aus und bedeckt schnell das gesamte Blickfeld vor meinem geistigen Auge. Rot, alles ist rot: Jon Anderson singt Awaken.
Gut, dass es mit Circus of Heaven wieder ein wenig ruhiger und bedeckter wird. Der Puls normalisiert sich, aber nur kurz, denn das Grün, oh das Grün – mit aller Macht drängt es ins Bewusstsein in Wonderous Stories, so kurz und ruhig, doch mit Olias Of Sunhillow lang und fantasievoll und sogleich wieder kürzer, aber nicht ruhiger in Song Of Seven. Das Grün in den drei verschiedenen Schattierungen der drei Werke grenzt sich deutlich gegeneinander ab, bis mit Open ein viertes hinzu kommt und die anderen drei allmählich von der Leinwand verdrängt. Mit Change We Must kommt kurz vor dem Ende der spektakulären  Farbentour schließlich noch einmal das hartnäckig wiederkehrende Rot zurück.
Aus dem einstigen Silber-Weiß des Siberian Khatru, das sich mit seltener Pracht über eine ganze Ära entfaltete, blieb im stillen Hintergrund ein Streifen hellen Lichtes, der sich über die Zeiten – 44 Jahre – hielt, nun in die Gegenwart herüber strahlt und sich entfaltet auf der Leinwand des Blickes in flimmernd leuchtendem silber-weißen Glanze: Invention of knowledge.

Epilog

Grün und Rot sind die dominierenden Farben, die über diesen ganz erstaunlichen Werken leuchten. Sie tauchen immer wieder auf. Gerade schienen sie einmal verdrängt – im nächsten Moment sind sie wieder da. Und wie das passt! Die beiden Farben sind es schließlich, die wie eine synästhetische Aura im und um den Namen Jon Anderson herum schwirren. Und das sogar beinahe im selben Verhältnis – Ein fast vollkommener Kreis! Können Sie es sehen? Schließen Sie die Augen! Lauschen Sie! Dann kommen die Farben zu Ihnen…